Der kreativen Intelligenz
auf der Spur

Die Werbebranche muss sich neu erfinden, um zukunftsfähig zu bleiben.
Aber wo anfangen? Auf Einladung von Google haben sich Vertreter*innen der Branche getroffen, um genau darüber zu diskutieren — und eine Debatte loszutreten.

Text: Dr. Lena Marbacher
Illustrationen: Miro Röper

Veröffentlicht erstmals im Neue Narrative Magazin Ausgabe #6

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Laut World Economic Forum ist Kreativität im Jahr 2020 zur drittwichtigsten Kernkompetenz von Unternehmer*innen und Unternehmen geworden. Die Kreativleistungen von Organisationen und ihre Strukturen sind im Wandel: nicht nur durch die Demokratisierung von kreativen Kompetenzen durch Google und Co., sondern auch durch den Trend Design Thinking, der aus den Konzernfluren nicht mehr wegzudenken ist. Designer*innen und Kreativschaffende sind nicht mehr der alleinige Kompass für Kreativität und Innovation. Und sie stehen auch nicht mehr dafür, am Ende alles hübsch zu machen. Sie sind die, die die Welt verändern können. Wo also liegen die Chancen kreativer Intelligenz? Genau darüber führen die wichtigsten Vertreter*innen der Branche ein (Streit-)Gespräch, um einen Anfang zu machen. Denn eine nachhaltige Debatte, in die sich alle Beteiligten, werbetreibende Unternehmen, Agenturen, Werbeplattformen, Texter*innen und Gestalter*innen einmischen, dauert länger als ein Artikel in einem Magazin.

Warum wir reden müssen

Wenn Google zu einem Gespräch einlädt, dann denken die Gäste häufig, die haben doch noch eine hidden agenda. Eine Annahme, mit der das Unternehmen häufig konfrontiert wird, erzählt Elly Oldenbourg von Google. Das ist wenig verwunderlich, wenn die Disruption der eigenen Branche in großen Teilen Organisationen wie Google zuzuschreiben ist. Und das ist schon ein Teil der Geschichte, um die es hier geht. Die einst gehüteten Kompetenzen der Marketingbranche kann man heute vermeintlich online finden. Den Kommunikationsagenturen spielt dieses Bewusstsein in die Hände und macht ihnen gleichzeitig das Leben schwer: Die Relevanz von Daten und künstlicher Intelligenz (KI) hat im kreativen Prozess deutlich zugenommen, gleichzeitig ist ihre Nutzung insbesondere bei Kreativschaffenden oft ein rotes Tuch. Dabei können Daten und KI im Kreativprozess Inspirationsquelle und Innovationstreiber sein. In den Konzernen führen nicht Designer*innen, sondern Organisationsberater*innen Dutzende Design-Thinking-Workshops durch und unter den beliebtesten Branchen von Hochschulabsolvent*innen sucht man Marketingagenturen vergeblich, wie eine Studie von Ernst&Young aus dem Jahr 2018 zeigt. Hinzu kommt, dass banale Abverkaufskampagnen in Zeiten von Fridays for Future nicht gerade hoch im Kurs stehen — weder bei den jungen, potenziellen Mitarbeitenden, noch bei der Branche selbst. War genau diese Branche nicht angetreten, um einen Unterschied zu machen? Um bedeutsam zu sein? 

Kurzum: Die Branche braucht ein Update! Das findet nicht nur Google und lud deshalb die wichtigsten Vertreter*innen der kreativen Werbebranche und Neue Narrative zum Streitgespräch ein. Einen Tag lang führten Heinrich Paravicini und 

Klaus Gräff vom Art Directors Club für Deutschland e.V. (ADC), Ralf Nöcker vom Gesamtverband Kommunikationsagenturen GWA e.V. (GWA), Anna Hoehn und Maik Hofmann von der APG Deutschland Verband der Marken- und Kommunikationsstrategen e.V. (APG), Lena Marbacher von Neue Narrative und Elly Oldenbourg, Oliver Rosenthal sowie Marc Nabinger von Google ein offenes Gespräch dazu, wie die ersten Thesen eines neuen Narrativs für die Branche klingen könnten. Denn diese Runde ist nur der Anfang. Es ist der Aufruf, Forderungen zu stellen, einen gemeinsamen Purpose zu entwickeln und mutig auf den Tisch zu hauen, um aufzuwachen. Wenn die europäische Wirtschaft einen Mehrwert zu bieten hat, dann ist es ihre kreative Intelligenz. Dies ist der Auftakt dazu, gemeinsam Antworten zu finden und noch mehr Fragen zu stellen.

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1. Kreative Intelligenz gestaltet Zukunft

Kreativ sein kann jede*r. Schon in den 70ern sagte das Joseph Beuys, heute ist Software die von allen leicht zu bedienende, verlängerte Werkbank geworden und die Design-Thinking-Bewegung ruft die Parole „Alle sind kreativ“ durch die Organisationskorridore und möchte jede*n Mitarbeitenden befähigen durch iteratives Vorgehen Innovationen hervorzubringen. “Das ist gut so. Die Demokratisierung von Kreativität und Gestaltung zeigt, dass jeder Mensch kreative Anlagen hat und holt sie ins kollektive Bewusstsein.” sagt Heinrich Paravicini (ADC). Fließen diese Talente beispielsweise in die Gestaltung von Produkten, Services oder Geschäftsmodellen, dann zeichnen sie sich unter anderem durch zwei entscheidende Merkmale aus: Sie stiften einen Mehrwert und weichen mindestens teilweise von dem ab, was es dort draußen schon gibt. “Kreativität als Produkteigenschaft kombiniert Relevanz mit Abweichung”, bringt es Ralf Nöcker (GWA) auf den Punkt. Echte Kreation bringt stetig Neues hervor und muss gleichzeitig von Bedeutung sein. Ohne Sinn macht es also keinen Sinn. Gibt es eine Fähigkeit, die für die Zukunft mehr gebraucht wird?

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2. Kreativität ist eine Investition

Laut Bundesministerium für Wirtschaft liegt der Beitrag der Kultur- und Kreativwirtschaft in 2017 zur Bruttowertschöpfung bei 102 Milliarden Euro. Genauso viel wie die Sparte des Maschinenbaus. Und auch die Maschinenbaubranche bildet ihre Ingenieure zu Design Thinkern aus, um ihr kreatives Potenzial zu fördern. Das Internet ermöglicht den Zugang zu Wissen und Werkzeugen, die früher noch wenigen zur Verfügung standen. Wie ich ein professionelles Video produziere, finde ich heute durch wenige Klicks heraus. Deshalb wird Markenkommunikation oft eingespart. Das Paradoxe ist: "Gleichzeitig hilft Kreativität nachweislich, zu verkaufen. Mit 65% anteilig sogar

mehr als jede andere involvierte Disziplin im Marketingprozess." zitiert Oliver Rosenthal (Google) eine Advertising Effectiveness Studie. “Auf Vorstandsebene. Wie ich ein professionelles Video produziere, finde ich heute durch wenige Klicks heraus. Deshalb wird Markenkommunikation oft eingespart. Das Paradoxe ist: "Gleichzeitig hilft Kreativität nachweislich, zu ver- kaufen. Mit 65% anteilig sogar mehr als jede andere involvierte Disziplin im Marketingprozess." 4 zitiert Oliver Rosenthal (Google) eine Advertising Effectiveness Studie. “Auf Vorstandsebene sucht man einen Chief Marketing Officer (CMO) dennoch vergeblich. Auf C-Level schafft es maximal der Vertrieb.” sagt Ralf Nöcker (GWA). Es liegt auf der Hand warum das so ist: Der Wert von kreativer Intelligenz lässt sich nicht so einfach messen, wozu also investieren? Was ist der Mehrwert den Auftraggeber*innen heute brauchen, der eine Investition in die Zukunft lohnt? Werbung ist es definitiv nicht, denn: “Werbung wie wir sie kennen ist tot. Die Lösung liegt im Design. Dieser erweiterte Designbegriff umfasst z.B. die Gestaltung von Services, Organisationen, Standards, Bildung und Regulationen." sagt Heinrich Paravicini (ADC). Für die Branche heißt das, Geschäfts- modelle und Wertversprechen zu gestalten, die nachhaltig in die Zukunft tragen.

3. Die kreative Kommunikationsbranche hat ein Kommunikationsproblem

Wer heute noch davon spricht, in der Werbung zu arbeiten, gilt als analog. Damit wird heute kein Pitch und auch kein*e potenzielle*r Mitarbeiter*in mehr gewonnen. Die zunehmende Integration von Agenturleistungen beim Kunden und digitale Player wie Google, Facebook oder Snapchat bringen zudem das prosperierende Ge- schäftsmodell der 80er und 90er ins Wanken. Große Beratungsfirmen kaufen ganze Kreativagenturen auf und der Mangel an Talenten ist längst zum Wachstumshemmnis geworden. “Kreativprodukte zu erzeugen, ist heute wesentlich anspruchsvoller, weil vielfältiger, als noch vor zehn Jahren und muss mit einer Belegschaft umgesetzt werden, die schwierig zu finden und zu begeistern ist.” sagt Ralf Nöcker (GWA). Aber Jammern hilft nichts: Während sich Agenturen jahrzehntelang mit den Marken ihrer Kund*innen beschäftigt haben, haben sie sich selbst aus dem Blick verloren. Dabei schlummert doch hier der Arbeitsplatz der Zukunft ... oder? Wenn das so sein soll, dann müssen wir jetzt die Ärmel hochkrempeln. Es ist Zeit für eine ganzheitliche Transformation!

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4. Kreativität braucht Vielfalt und Zeit

“Wer so richtig unter Druck steht und keine Zeit hat, sollte sich Zeit nehmen.” findet Maik Hofmann (APG). Kreativität braucht Zufälle, Abwechslung, Inspiration und die Fähigkeit Bekanntes so zu kombinieren, das etwas Neues daraus entsteht. Sie braucht interdisziplinäre, diverse und inklusive Mitarbeitende auf Team- und Führungsebene. So kann Innovation entstehen. Eine Branche in Angst ist kein Umfeld in dem Kreationen gedeihen können. Die Bedingungen für die eigene Arbeitswelt dürfen nicht von aussen diktiert sein. Gestalter*innen sollten zu selbstbewussten Gestalter*innen der eigenen Bedingungen werden. “Interdisziplinarität ist für uns mittlerweile ein Schlüsselwort - und zwar auch, oder gerade, in der Zusammenarbeit mit Kunden. Es geht um Ko-Kreation." so Heinrich Paravicini (ADC). Das bedeutet, sich nicht an die Organisationen anzupassen und ihre Strukturen zu spiegeln, für die man Leistung erbringt, sondern bewusst selbst die Organisation zu sein, die man sein will. Gestaltungsprozesse sind auch auf Organisationsebene anwendbar: Be your own prototype, heißt deshalb die Parole!

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5. Kreativität trägt Verantwortung

Lange haben Kreativ- und Mediaagenturen ihr schöpferisches Potenzial in hochglanzpolierte Produkt-Kampagnen von Unternehmen gesteckt. Heute geht es nicht mehr darum blind zu verkaufen, sondern Unternehmen dabei zu helfen adäquat und erfolgreich zu kommunizieren. Dazu gehört Verantwortungsübernahme und eine neue Haltung bei beauftragenden Unternehmen und Agenturen. Insbesondere weil jeder Fake früher oder später in einen Tweet, einer Video Botschaft oder einer Story verpackt die Welt umrundet. Und das ist gut so, darin sind sich alle Gesprächspartner*innen einig. Der größte Wert in der Gestaltung von Kommunikation ist heute Transparenz und Authentizität. Das heißt nicht, dass kein Profit mehr gemacht werden darf. Der Wandel liegt darin, die Maximierung von Profit nicht zum einzigen Daseinszweck zu machen, sondern gleichzeitig gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Eine viel gefeierte Kampagne mit verantwortungsbewusster Haltung ist deshalb die “Uncensored Playlist” aus 2018. Weil Musikstreamingdienste frei von Internetzensur weltweit zugänglich sind, haben Journalist*innen aus z.B. China, Vietnam und Ägypten einige ihrer zensierten Texte mit Hilfe von internationalen Musiker*innen zu Pop-Songs verarbeitet. Mittels der Uncensored Playlist fanden die verbotenen Inhalte auf diesem Weg trotzdem ihren Weg in die Öffentlichkeit. Wer also die Antwort auf die Frage nach dem Warum an eine Hausfassade sprayen kann und wirklich danach handelt, ist auf dem richtigen Weg.

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6. Transformation fängt bei uns selbst an

“Agenturen dürfen nicht länger der Kellner sein, der an den Tisch des Gastes kommt und sagt: Möhren sind aus, Pech gehabt!” ärgert sich Ralf Nöcker. Und gleichzeitig dürfen sie sich nicht in agilen Sprints verlieren, nur weil der Kunde es verlangt. Kreativunternehmen müssen zu Kurator*innen ihres eigenen, stark gewachsenen Leistungsportfolios werden. Sie sind sowohl intern, als auch extern in der Zusammenarbeit mit Kunden nicht nur die Expert*innen Design-getriebener, co-kreativer Prozesse, sondern in der Lage unterschiedliche Bereiche und Expert*innen zusammenzubringen. Wo früher der oder die Ansprechpartnerin in der Marketingabteilung saß, gilt es heute z.B. darum Digital und Kommunikation von Anfang an zusammen zu denken. Wenn im ein oder anderen Bereich noch die hierarchische Pyramide an der Macht ist und Abteilungen die eng zusammenarbeiten müssen, nicht mal im selben Gebäude sitzen, dann ist es heute auch die Aufgabe von Marketingagenturen zu zeigen, wie strukturelle Hindernisse aus dem Weg geräumt werden können.

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7. Wer sind wir?

Von wem sprechen wir, wenn wir von wir sprechen? Die Kreativ- branche die rund 100 Milliarden Euro umsetzt, umfasst u.a. Desig- ner*innen, Texter*innen, Art Direktor*innen, Markenstrateg*innen, Analyst*innen, Software- und Gameentwickler*innen. Wir alle sind zur Kollaboration aufgerufen, einen gemeinsamen Purpose im Zeitalter kreativer Intelligenz zu entwickeln. Dazu braucht es keinen Verein mit Mitgliedsausweis. Es braucht eine Bewegung, eine Stimme, die der Politik stellvertretend für die Branche ein Angebot zum Gespräch macht. Wir sollten uns fragen, was auf dem Weg dahin zu tun ist: Was sind unsere Stärken? Zu welchen Bedingungen arbeiten wir und für wen? Was ist unsere Verant- wortung? Und worin liegt unser Wert? Wir müssen aufhören, uns aufzuregen. Stattdessen sollten wir öfter nein sagen und Banden bilden! Die Zukunft wird durch Kreativität gestaltet werden. Die Kreativen, das sind wir. Und wir sind viele.

Wie es weitergeht

Diese sieben Thesen bilden nur einen Startpunkt und sind gleichzeitig die Einladung zum widersprechen, streiten und weiterentwickeln. In einer Reihe von Roundtables wollen wir den Gesprächsfaden aufnehmen und gemeinsam neue Narrative für das Zeitalter kreativer Intelligenz gestalten. Wir möchten das Feld noch größer machen, auf Makroebene und auch auf Mikroebene. Wir fragen uns, was die Werbung der Zukunft ist? Wie eine Utopie der Marketing- und Werbebranche aussieht und wie diese Branche heißen wird? Wie muss, vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung, die Wertschöpfungskette von Markenkommunikation gestaltet sein? Und welche Partner*innen sind an ihr beteiligt? Sind es andere Stärken und Kompetenzen als bisher, die dafür benötigt werden? Wer verfügt heute und in der Zukunft über diese Stärken? Zu diesen und noch viel mehr Fragen wird Google zusammen mit dem ADC, dem GWA und der APG zu monatlichen Creative Industry Roundtables einladen.